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Pilgern gegen das Stigma - Adipositaspatienten auf dem Jakobsweg

Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Und mit einem BMI von über 30 gelten fast ein Viertel der Bundesbürger als fettleibig oder adipös. Die betroffenen Menschen leiden sowohl gesundheitlich als auch psychisch an ihrem ständig steigenden Körpergewicht und der Entwicklung unterschiedlichster Begleit- und Folgeerkrankungen.
Von Seiten der Kostenträger werden sinnvolle Präventions- oder Therapieangebote nach wie vor oftmals verweigert oder zumindest nicht flächendeckend bereitgestellt. Schließlich ist aus Sicht der Kassen und der Politik Adipositas noch immer nicht als Krankheit anerkannt. Viele der Therapieangebote müssen von den betroffenen Patienten teilweise oder sogar vollständig selbst übernommen werden. Im Bereich der Adipositaschirurgie werden Leistungen manchmal erst nach teilweise langen Klageverfahren gewährt.
All dies verursacht einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und stellt zusätzlich unser Gesundheitswesen vor immense wirtschaftliche Herausforderungen.

Das Caminoprojekt: Neues Konzept – Gleiches Ziel

Um auf die schwierige Situation der betroffenen Patienten aufmerksam zu machen und sich dafür einzusetzen, dass Adipositas als Krankheit anerkannt wird, wurde das Caminoprojekt ins Leben gerufen. Es verbindet Menschen, die an dieser Krankheit leiden oder gelitten haben, bei einer Wanderaktion: Gemeinsam wird der Jakobsweg gemeistert. Das Projekt wurde in sozialen Netzwerken vorgestellt, und Interessenten aus Deutschland und der Schweiz konnten sich bei den Initiatoren per Mail bewerben.
In den Jahren 2017 und 2019 stieß diese Aktion bereits auf große Resonanz bei Betroffenen, Medizinern und Medien. So begleitete zum Beispiel der Hessische Rundfunk die Teilnehmer auf ihrem Pilgerweg und sendete die Dokumentation „Kilo gegen Meter“ im September 2020. Auch zahlreiche Printmedien aus Deutschland und der Schweiz haben sich des Themas angenommen und darüber berichtet.

Die nächste Pilgerreise wird einige Neuerungen mit sich bringen, die aus den gewonnenen Erkenntnissen der vergangenen zwei Wanderungen entstanden sind. Das Ziel ist, die Erlebnisse und Eindrücke der einzelnen Teilnehmer noch zu verstärken und jedem eine stärkere Individualität und einen persönlichen Bezug zum Weg zu ermöglichen.
So werden die Etappenwanderungen nicht mehr in zwei großen Gruppen von jeweils bis zu 20 Personen durchgeführt, sondern es werden sich kleine Gruppen von jeweils 2 bis 4 Personen auf den Weg machen. Der Austausch in größerer Runde findet dann am jeweiligen Etappenziel statt. Außerdem führt der Weg diesmal auch entlang der malerischen Küste und in der zweiten Hälfte durch das grüne Landesinnere Galiciens zum Sehnsuchtsort aller Pilger: der Kathedrale von Santiago de Compostela.
Bereits im Vorfeld werden sich die Teilnehmer der Reise kennenlernen und in kleinen Gruppen für die anstehenden Strapazen trainieren.

Der Initiator

Faris Abu-Naaj war bis zu seinem 32. Lebensjahr selbst stark übergewichtig und wog damals 208 Kilogramm. Weder Diäten noch Abnehmkuren sorgten für eine nachhaltige Verbesserung seiner Situation, und das Gewicht verursachte weitere gesundheitliche Probleme wie Bluthochdruck und eine Schlafapnoe. Im Jahr 2001 unterzog sich der Sohn eines palästinensischen Arztes einer Magen-OP und verlor auf diese Weise fast 100 Kilogramm an Gewicht. Auch wenn das rückblickend die richtige Entscheidung war, gestaltete sich die OP nicht als Selbstläufer. Immer wieder hat Faris erneut Phasen mit starken Gewichtsschwankungen erlebt. Nur durch körperliche Aktivität schaffte er es, einen weiteren Gewichtsanstieg zu verhindern.

Den Camino ist Faris bereits fünf Mal auf unterschiedlichen Wegen gegangen und hat dabei auch mehrmals Adipositaspatienten mit auf den Weg gebracht. Der Leiter von zwei Adipositas-Selbsthilfegruppen (München, Frankfurt) hat dieses Projekt ins Leben gerufen, weil er glaubt, dass viele stark übergewichtige Menschen sich zu sehr sozial zurückziehen und den Kopf in den Sand stecken. Die letzten beiden Caminoprojekte haben gezeigt, dass viele der Teilnehmer bereits im Vorfeld über sich hinauswachsen, und dass der Pilgerweg eine echte Motivation sein kann, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und dem Leben neue Impulse zu vermitteln.

Die Unterstützer

Unterstützt wird dieses Projekt von Gesunde Neugier – Verein zur Förderung und Verbreitung medizinischen Wissens e.V., der AdipositasHilfe Deutschland e.V. und der Schweizerischen Adipositasstiftung (SAPS).
Die beiden Vorsitzenden der Adipositashilfe - Stefanie Wirtz und Michael Wirtz - werden jeweils eine der Gruppen begleiten. Beide Verbände werden auch bei der Organisation der Fitnesstests und der Betreuung der Teilnehmer das Gelingen des Caminoprojekts unterstützen.

Faris Abu-Naaj, © Frank Adelhardt
Stefanie Wirtz, © privat
Michael Wirtz, © privat